Hilfsmittel – eines für alle gibt’s nicht!

Patrick Kolb ist Sprecher des Dekubitusforum im Bundesverband Medizintechnologie BVMed, Berlin, Vorsitzender der Fachvereinigung Medizin-Produkte e. V. (f.m.p.), Köln, und Geschäftsführer der Carenetic GmbH, ein auf Hilfsmittel gegen Dekubitus spezialisierter Dienstleister.

Er ist Autor zahlreicher Publikationen zum Thema Hilfsmittelversorgung und Referent für Weiterbildungen in diesem Bereich. Patrick Kolb erklärt hier, warum die Hilfsmittelversorgung mit Antidekubitus-Hilfsmitteln häufig mangelhaft ist und was sich ändern muss, um Betroffenen Leid zu ersparen und Angehörigen die Pflege zu erleichtern.

Warum entsteht trotz einer Antidekubitus-Versorgung bei Patienten häufig doch ein Druckgeschwür?

Interview mit Patrick Kolb

Herr Kolb, wo liegt die Schwierigkeit bei der Auswahl des richtigen Hilfsmittels?

In der Pflegewissenschaft und in Expertenkreisen herrscht Einigkeit darüber, dass die Auswahl eines geeigneten Antidekubitus-Hilfsmittels nur individuell, anhand der spezifischen Patientensituation, erfolgen kann. Das eine Hilfsmittel für jeden Patienten gibt es nicht! Zu den Einflussfaktoren auf die Hilfsmittelauswahl gehören der Mobilitätsstatus, die vorliegenden Grunderkrankungen und Fähigkeitsstörungen, die aktuelle Wundsituation, das pflegerische Umfeld, begleitende Therapieziele, Gewicht und Körperproportionen, die Schmerzsituation, DIN-Normen, Hygienevorschriften um nur mal die wichtigsten zu nennen. Alle Kriterien müssen berücksichtigt und gemäß der Therapie- und Pflegeziele bei der Auswahl gewichtet werden! Nicht zuletzt auch andere Therapieziele neben der Dekubitusvermeidung.

Viele Hilfsmittel-Leistungserbringer legen einfach nach einem Telefonat mit dem pflegenden Angehörigen ein Hilfsmittel zur Auslieferung fest, ohne den Patienten zuvor gesehen zu haben. Das ist ein Unding!

Warum entsteht trotz einer Antidekubitus-Versorgung bei Patienten häufig doch ein Druckgeschwür?

Der sicher häufigste Fehler in der Praxis ist, dass die Auswahl z. B. der Antidekubitus-Matratze pauschal ohne Bezug zum Patienten erfolgt. Viele Hilfsmittel-Leistungserbringer legen einfach nach einem Telefonat ein Hilfsmittel zur Auslieferung fest, ohne den Patienten zuvor gesehen zu haben und ohne festzustellen, in welchem Ausmaß der Pflegebedürftige noch über druckentlastende Eigenbewegungen verfügt oder im Umfeld die Möglichkeit besteht, dass ihn die pflegenden Angehörigen ausreichend umlagern können. Diese Feststellung ist wesentlich, um die Art der Matratze festzulegen. In der Praxis erleben wir leider eine Vielzahl von Fehlversorgungen, die dann zu Dekubitus oder anderen Komplikationen beim Pflegebedürftigen führen. Darüber hinaus ist bei bestimmten Grunderkrankungen mit erfahrungsgemäß hohen Komplikationsrisiken eine besondere Fach- und Handlungskompetenz beim Leistungserbringer und eine besonders sorgfältige Auswahl des Hilfsmittels erforderlich. Dazu gehören schwerwiegende Tumorerkrankungen, neurologische Erkrankungen oder Patienten mit sehr hohem oder sehr niedrigem Körpergewicht.

Es ist falsch, einen Pflegebedürftigen, der noch über gute Bewegungsmöglichkeiten verfügt, auf eine sogenannte Superweichlagerungsmatratze zu legen, die es ihm erschwert, sich zu umzudrehen oder aufzustehen. Ebenso wie einen Patienten mit starken Schmerzen im Rückenbereich mit einem einfachen Wechseldrucksystem zu versorgen.

Stichwort Antidekubitus-Matratzen – wie wichtig sind sie in der Dekubitusprophylaxe und -therapie und wieviel Entlastung bieten sie Betroffenen und Pflegenden?

Eine Antidekubitus-Matratze ist eine sehr wichtige Hilfe für Menschen, die ihre Liegeposition im Bett nicht eigenständig verändern können, um sie vor dem Wundliegen zu schützen. Sie kann das Lagerungsintervall, das heißt die Zeit zwischen zwei druckentlastenden Umpositionierungen des Patienten, verlängern. Das ist überall da eine enorme Hilfe, wo es keine Angehörigen gibt, die den Pflegebedürftigen lagern können oder wo die Angehörigen schlicht nicht die physische Kraft haben, ihren Partner, ihre Mutter oder ihren Vater in eine Seitenlage zu bringen, um beispielsweise das Gesäß zu entlasten. Da wo ein immobiler, bettlägriger 80 kg schwerer Patient von den Angehörigen nicht gelagert werden kann und der Pflegedienst nur zwei bis dreimal am Tag ins häusliche Umfeld kommt, um diese wichtige pflegerische Aufgabe durchzuführen, sind Antidekubitus-Matratzen zur Vermeidung des Wundliegens besonders wichtig. Sie sind aber auch in Pflegeeinrichtungen, die nicht über ausreichend Personal verfügen, elementar wichtig, um die regelmäßige Lagerung der Bewohner sicherzustellen – vor allem in der Nacht.

Ganz wichtig zu verstehen ist es, dass selbst die hochwertigste Matratze das Umlagern des Pflegebedürftigen nicht ersetzen kann. Sie kann nur die Zeitintervalle verlängern, in denen manuelle Umpositionierungen durch die Pflegenden notwendig sind. Warum? Auch wenn die Matratze Druck reduziert, bleibt ein gewisser Druck bestehen, der auf die Haut einwirkt, die Gewebeversorgung beeinträchtigt und im Zeitverlauf zu einem Dekubitus führen kann. Es ist also wichtig, dass alle Hautpartien die mit der Liegefläche in Kontakt kommen, regelmäßig durch Lagerungsmaßnahmen entlastet werden.

Wann hat man Anspruch auf eine Antidekubitus-Matratze?

Ihr pflegebedürftiger Angehöriger hat schon einen Anspruch auf eine Antidekubitus-Matratze, wenn diese zur Vorbeugung dient. Es muss also nicht erst ein Dekubitus auftreten, bevor Ihnen Hilfsmittel gegen Dekubitus zustehen. Dies ist eindeutig in der Sozialgesetzgebung geregelt. Dennoch entgegnen nicht wenige Krankenkassen ihren Versicherten, dass sie erst bei einem Dekubitus der Kategorie I oder II zum Beispiel eine Matratze erhalten. Diese Aussagen sind falsch und sollen offensichtlich Leistungsausgaben bei der Krankenkasse vermeiden. Solche Verhaltensweisen sind auch sehr kurzfristig gedacht, weil die Kosten für die Krankenkassen bei Entstehung eines offenen Druckgeschwürs schnell bei 10.000,00 bis 50.000,00€ Euro liegen können, während eine geeignete Matratze zur Prophylaxe nur wenige hundert Euro kostet.

Ob Ihr Angehöriger eine qualifizierte, gute Versorgung mit Hilfsmitteln gegen Dekubitus erhält, hängt leider auch von der Krankenkasse ab, bei der er versichert ist. Denn die grundlegenden Leistungen sind nicht bei allen gesetzlichen Krankenkassen gleich. Bei den Vertrags- und Leistungsinhalten, die Krankenkassen für ihre Versicherten vereinbaren, gibt es enorme Unterschiede. Manche Krankenkassen zahlen ihren Vertragspartnern so niedrige Vergütungen, dass man hierfür keine Produkt-, Beratungs- und Dienstleistungsqualität erbringen kann. Da die Fachhändler Wirtschaftsunternehmen sind, die Erträge erzielen müssen, reduzieren sie die Leistung so, dass sie auch mit der geringen Vergütung noch einen Gewinn erlangen. Der Leidtragende ist dann häufig der Versicherte. Andere Krankenkassen bieten für ihre Versicherten sehr gute Leistungen in der Dekubitusprävention, was allen zugute kommt. Ein vermiedener Dekubitus spart Leid beim Versicherten, Belastungen beim pflegenden Angehörigen und Behandlungskosten bei der Krankenkasse.

Seien Sie kritisch, wenn der Hilfsmittel-Leistungserbringer bei der Versorgungsentscheidung nur von Weichlagerung oder Wechseldruck spricht!

 

Der Markt bietet verschiedene Antidekubitus-Matratzen. Was muss man wissen, um die Richtige zu bekommen?

Die Auswahl einer Antidekubitus-Matratze sollte immer durch Fachexperten erfolgen oder durch sie begleitet werden und hängt vom individuellen Dekubitusrisiko des Pflegebedürftigen ab, das sich aus verschiedenen Einflussfaktoren ergibt. Grundsätzlich sagt man: Hat der Pflegebedürftige noch eine gewisse Eigenmobilität und ist die regelmäßige Lagerung gewährleistet, sind statische Schaumstoff- Weichlagerungsmatratzen in der Regel ausreichend.

Je immobiler aber ein Patient ist und je seltener eine Umlagerung geleistet werden kann – und das ist in der Pflegepraxis ja leider häufig der Fall –, umso eher sind dynamische, luftgesteuerte Matratzen zur Vermeidung von Dekubitus geeignet. Im Nationalen Expertenstandard für Dekubitusprophylaxe in Deutschland heißt es daher auch: ,Bei Patienten, die nicht so häufig oder gar nicht umpositioniert werden können, wird der Einsatz von Wechseldrucksystemen empfohlen.‘

Doch wie schon gesagt, es gilt, bei jedem Menschen genau hinzuschauen! Beispielsweise bei Erkrankungen wie Demenz, Alkoholabusus oder bei Einnahme von Schmerz- oder Schlafmitteln kann der Pflegebedürftige tagsüber sehr wohl Fußgänger sein, sodass man ihm eine gute Mobilität und ein geringes Dekubitusrisiko attestiert. Im Bett liegend bewegt er sich wegen fehlender Reize oder weil der Körper es verlernt hat, aber nicht von der Stelle, sodass gerade hier ein sehr hohes Dekubitusrisiko besteht.

Seien Sie kritisch, wenn der Hilfsmittel-Leistungserbringer bei der Versorgungsentscheidung nur von Weichlagerung oder Wechseldruck spricht. Zum einen gibt es innerhalb der beiden Matratzenarten „Schaumstoff“ und „Wechseldruck“ eine Vielzahl von Produkten mit unterschiedlichen Leistungsmerkmalen und Gütequalitäten. Zum anderen gibt es Antidekubitus-Matratzen, die weder aus Schaumstoff bestehen noch dem klassischen Wechseldruckprinzip entsprechen. Sie gleichen häufig die Nachteile der beiden Standardtechnologien aus und sind bei Patienten mit schwerwiegenden Erkrankungen gut geeignet.

Wenn Angehörige von Ihnen in einer Stationären Pflegeinrichtung leben und eine Antidekubitus-Matratze benötigen, sollten Sie wissen, dass hier häufig sehr geringe Fachkenntnisse über Hilfsmittel gegen Dekubitus bestehen. Leider besteht die Zielsetzung mancher Pflegeheime schlicht darin, den Aufwand der Anwendung der Hilfsmittel möglichst gering zu halten, um Zeit und Kosten zu sparen. Es werden daher häufig einfache Schaumstoffmatratzen favorisiert, weil diese leicht zu handhaben sind, keine längeren Einweisungen des Personals in die Anwendung erfolgen müssen und keine Kontrolle technischer Einstellungen und Wartungstermine erfordern. Ob der Bewohner mit einer einfachen Schaumstoffmatratze bedarfsgerecht versorgt ist, tritt vor dem Hintergrund massiver Personalprobleme und der Frage, ob Umlagerungen immer sichergestellt werden können, oft in den Hintergrund. Es geht aber nicht darum, das Pflegeheim zu versorgen, sondern einen Menschen, der wirkungsvoll vor Wundliegen geschützt werden soll. Dekubitusprävention ist eine der zentralen Aufgaben der Pflege und kein Randthema. Wenden Sie sich daher an die Krankenkasse, wenn Sie unzufrieden mit der Hilfsmittelauswahl und Versorgung bei Ihrem Angehörigen sind. Nur dann werden Krankenkasse und Pflegeeinrichtung ihr Leistungsverhalten überdenken.

Rechtliche und fachliche Anforderungen aus Expertenstandard und Leitlinien

  • Die Einschätzung des Dekubitusrisikos und die Auswahl von Maßnahmen zur Dekubitusprävention erfordert pflegefachliches Wissen.
  • Zur Transparenz der Hilfsmittelauswahl, zur Qualitätssicherung und zur Evaluation der Versorgung erfolgt die Dokumentation des Patientenstatus und des Hilfsmittelbedarfs in einem geeigneten Erhebungsbogen.
  • Zu den Einflussfaktoren auf das Dekubitusrisiko und die Hilfsmittelauswahl gehören Grunderkrankungen, Fähigkeitsstörungen, die zentrale Risikoeinflussgröße„Mobilität“ und hierbei insbesondere die Fähigkeiten zur Positionsveränderung und Aufrechterhaltung einer bestimmten Position sowie das soziale und pflegerische Umfeld.

Was kann man als pflegender Angehöriger tun, wenn der Betroffene mit der gelieferten Antidekubitus-Matratze nicht zurechtkommt?

Ebenso wie die Auswahl der Antidekubitus-Matratze ist auch das Empfinden des Menschen sehr individuell. Daher kann es natürlich trotz einer fachgerechten Empfehlung und Versorgung dazu kommen, dass der Pflegebedürftige die zur Verfügung gestellte Antidekubitus-Matratze nicht toleriert. Auch kommt es regelmäßig vor, dass das Hilfsmittel bei Veränderung des Krankheitsbildes, insbesondere bei einer Verschlechterung der Mobilität nicht mehr ausreichend ist, um Wundliegen zu vermeiden. Die Verträge zwischen Krankenkassen und Hilfsmittel-Leistungserbringern sehen daher in der Regel vor, dass eine Versorgungsüberprüfung und erneute Beratung beim Pflegebedürftigen stattfindet und das vorhandene Hilfsmittel dann gegen ein bedarfsgerechteres ausgetauscht wird. Als Angehöriger kann ich mich also direkt an die Krankenkasse oder den Hilfsmittel-Lieferanten wenden und um Überprüfung, erneute Beratung und dann auch um den Austausch des Produktes bitten. Ich gebe pflegenden Angehörigen den Rat

  1. Sich vom Sanitätshaus nicht damit abspeisen zu lassen, dass es nichts machen kann, wenn der Patient mit der Antidekubitus-Matratze nicht zurechtkommt, weil die Krankenkasse keine andere bezahlt. Dies ist natürlich nur ein Vorwand, um erneuten Aufwand und Kosten zu sparen. Der Händler hat aber die Pflicht, die Versorgung zu überprüfen. Wenn der Hilfsmittel-Leistungserbringer also nicht reagiert, wenden Sie sich an Ihre Krankenkasse und beschweren sich über das Verhalten des Hilfsmittel-Lieferanten.
  2. Seien Sie sich bewusst, dass ein Hilfsmittel dazu dient, einem Dekubitus vorzubeugen. Das Hilfsmittel kann aber andere Umstände einer Erkrankung oder einer Pflegesituation gegebenenfalls nicht beeinflussen. Das Hilfsmittel hat in dieser Hinsicht seine Grenzen. Ein Patient mit hochgradigem Schmerzsyndrom wird daher auch z. B. auf einer hochwertigen Antidekubitus-Matratze nicht schmerzfrei sein. Grundsätzlich sollten pflegende Angehörige, der Hilfsmittel-Leistungserbringer und die Krankenkasse gemeinsam eine Lösung anstreben, die dabei hilft Wundliegen zu vermeiden und die der Pflegebedürftige gut toleriert.
  3. Sich von Aussagen in den Werbebroschüren der Hersteller nicht irreführen zu lassen. Viele Hersteller von Antidekubitus-Matratzen bewerben ihre Produkte z. B. mit Aussagen wie ,geeignet bis Dekubitusgrad IV‘. Solche Werbebotschaften sind in höchstem Maße unseriös, weil sie suggerieren, dass die Matratze grundsätzlich auch bei hochgradigen Wunden verwendet werden kann. Einen Zusammenhang zwischen einer Matratze und ihrer Eignung für einen Dekubitusgrad gibt es nicht. Ob ein Hilfsmittel für einen Patienten geeignet ist, ergibt sich ausschließlich aus der spezifischen Krankheits- und Pflegesituation.

 

Kontakt:

Patrick Kolb
Carenetic GmbH
Kirchfeldstr. 21
51643 Gummersbach
Telefon: +49 2261 501670
Telefax: +49 2261 5016760
E-Mail: p.kolb@carenetic.de

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