Wir verdrängen das Problem Dekubitus in der Pflege
Claus Fussek ist Sozialpädagoge und Pflegekritiker. Er kämpft seit über 40 Jahren für menschenwürdige Pflege. Er selbst hat auch über 10 Jahre Erfahrung als pflegender Angehöriger. Seit vielen Jahren schildern ihm verzweifelte Angehörige und Pflegekräfte von gravierenden Missständen und Pflegefehlern.
Dekubitusfallzahlen in Deutschland
- 600.000 Menschen erleiden in Deutschland jährlich einen Dekubitus (Quelle BVMed)
- 43,7 Prozent aller Pflegeheimbewohner gelten als dekubitusgefährdet (Quelle: MDS)
- 18,6 Prozent der Krankenhauspatienten weisen ein Dekubitusrisiko auf (Quelle: Lahmann, Kottner u. a.)
- Bei 8,5 Prozent aller Heimbewohner treten jährlich neue Dekubitus-Fälle auf (Quelle: WIdO)
Das Interview führt der Pflege-Experte Claus Fussek mit uns aus der Perspektive wehrloser alter Menschen in Pflegeheimen.
Wir müssen die Probleme ehrlich benennen! Dekubitalgeschwüre gibt es leider häufig, auch wenn wir sie nicht sehen.
Dekubitusfallzahlen in Deutschland
Interview mit Claus Fussek
Herr Fussek, als Pflege-Experte wissen Sie vor allem über die verschiedenen Versorgungsprobleme in Pflegeheimen sehr gut Bescheid. Wo liegen die größten Schwierigkeiten für Pflegeheime, pflegebedürftige alte Menschen zu versorgen?
Das ist zum einen Personalmangel und zum anderen die Überlastungssituation des Personals. Das hat zur Folge, dass empathische, qualifizierte Pflegekräfte ihren Beruf verlassen, weil sie die würdelose und gefährliche Pflege nicht mehr mit ihrem Gewissen vereinbaren können.
Stichworte Personal- und Zeitmangel: Können bettlägerige, pflegebedürftige, alte Menschen in einem Pflegeheim überhaupt vor dem Wundliegen bewahrt werden? Vor allem im Hinblick auf den Nachtdienst, bei dem in vielen Pflegeheimen nicht selten z. B. nur eine Pflegekraft für knapp 50 pflegebedürftige Bewohner zur Verfügung stehen.
Gehen Sie doch einmal mal unangemeldet in eine Einrichtung und fragen sie sich, ob mit den vorhandenen Menschen, die auf der Station tätig sind, eine Grundversorgung möglich ist. Dann wissen Sie die Antwort. Beispiel Nachtwachenbesetzung: Gehen wir mal von einer Nachtwache für 50 pflegebedürftige Bewohner aus, die gelagert, positioniert und hygienisch versorgt werden müssen. Manche Bewohner weigern sich auch, sich lagern zu lassen, da braucht man mitunter eine „Engelsgeduld“ als Pflegekraft. Sie können sich vorstellen, dass mit einem derartigen Personalschlüssel keine Dekubitusprävention möglich ist.
Ich mache den Pflegekräften keinen Vorwurf, dass sie die Arbeit nicht schaffen, aber, dass sie diese entwürdigenden, verletzenden Zustände mitmachen. Sie könnten ja auch eine Überlastungsanzeige stellen. Ich möchte hier aber ausdrücklich nicht die Pflegeheime und –kräfte unter Generalverdacht stellen. Selbstverständlich kenne ich auch zahlreiche Pflegeheime, die dafür sorgen, dass ein Dekubitus – der ja fachlich ein schwerer Pflegefehler ist, in ihrer Einrichtung nicht entsteht, vor allem dort, wo man eine palliative Haltung ausübt.
Ursachen für Dekubitus in Kliniken und Pflegeeinrichtungen
- Personalknappheit in der Pflege
- Gering qualifiziertes Personal am Patienten
- Wissensdefizite in der Dekubitusprävention
- Aufwandsminimierung zugunsten von Wirtschaftlichkeit und zu Lasten der Bewohner
- Unzureichende Hilfsmittelausstattung
Wie Wundliegen verhindert werden kann, ist pflegewissenschaftlich bekannt. Dekubitus gilt als vermeidbar. Dennoch steigen die Fallzahlen auch in der Stationären Pflege. Haben wir auch ein Schulungs- oder Qualifizierungsproblem in der Pflege?
Wir haben in der Theorie null Erkenntnisprobleme, wir wissen welche Präventionsmaßnahmen es gibt, und zwar aus dem verbindlichen „Nationalen Expertenstandard zur Dekubitusprophylaxe“, den es seit über 20 Jahren gibt. Nur die Umsetzung ist katastrophal. Und zwar bei Pflegefachkräften und auch Heimärzten.
Wie schon gesagt, viele gut qualifizierte, empathische Pflegekräfte gehen, weil sie die Pflege der ihnen anvertrauten alten Menschen ethisch mit ihrem Gewissen nicht mehr verantworten können. Die alten Menschen sind aber im Pflegeheim und müssen dort versorgt werden und so muss man Personal finden, das die Arbeit übernimmt, das jedoch nicht unbedingt fachlich und insbesondere in der Dekubitusprävention und –therapie qualifiziert ist und auch empathisch nicht kompetent ist. Der Glaube, man zahlt die guten Pflegekräfte einfach besser, sodass sie bleiben und dann wäre das Problem gelöst, ist falsch. Es liegt nicht nur an der Bezahlung. Ich habe festgestellt: Pflegekräfte, die mit den pflegerischen Missständen leben, kapitulieren irgendwann. Sie sind ausgebrannt, abgestumpft, haben keine Haltung mehr. Sie wissen, dass sie die Theorie der professionellen und würdevolle Pflege nicht annähernd umsetzen können. Das ist aber nicht nur das Dilemma der Pflegekräfte und Heimärzte, es ist ein gesamtgesellschaftliches. Wir verdrängen das Problem Dekubitus. Doch das können wir uns ethisch und wirtschaftlich nicht leisten.
Was müsste in einem Pflegeheim getan bzw. verändert werden, um ein Dekubitalgeschwür verhindern zu können?
Dass Sie mir im Jahr 2022 diese Fragen stellen müssen, zeigt eigentlich schon, in welchem Zustand die Pflege ist. In einem normalen Pflegeheim sollte eine ordentliche Dekubitusprophylaxe kein Problem sein. Wir müssen in Pflegeheimen und Krankenhäusern die Zeit, Qualifikation und Haltung haben, den uns anvertrauten alten und pflegebedürftigen Menschen genau anzuschauen, auch „unter die Decke schauen“ und entsprechend unserer Beobachtung das Dekubitusrisiko des Menschen einschätzen, dokumentieren und in seinem Sinne nach bestem Wissen und Gewissen vorbeugend handeln und versorgen.
Was kann ich tun, wenn ich Pflegemissstände bei meinem Angehörigen entdecke?
Alle Angehörigen, die sich im Laufe meiner Berufsjahre an mich gewandt haben – und das waren Zehntausende –, baten mich um Anonymität. Es gibt einen Satz, der immer fiel: „Sonst muss ich oder meine Mutter/mein Vater büßen.“ Natürlich entsteht so ein Klima der Angst und des Schweigens. Es gibt aber auch Einrichtungen, in denen Kritik und Beschwerden als Möglichkeit gesehen werden, sich zu verbessern. Doch solche Einrichtungen sind Exoten, die wissen, ein Heim ohne Mängel, das gibt es eigentlich nicht.
Ich kenne einen Heimleiter, der sagt: „Ich brauche keine Heimaufsicht, ich habe die Kontrolle 365 Tage im Haus“. Und weiter: „Wenn ich bis 12 Uhr keine Beschwerden bekommen habe, dann werde ich unruhig“. Für mich ist der Schlüssel: Würden die Pflegekräfte sich in die schutzbedürftigen ihnen anvertrauten alten Menschen hineinversetzen, stünden sie auf ihrer Seite (auf welcher denn sonst?) – dann hätten wir eine Allianz der Solidarität, dann wäre es eine mächtige Gruppe in dieser Gesellschaft. Denn ehrlich, es gibt doch niemanden, der für schlechte Pflege ist.
Vor vielen Jahren hat meine eigene Mutter, als sie für einige Wochen in der Psychiatrie behandelt werden musste, bei meinem Besuch meine Hände genommen und gesagt: „Versprich mir, dass du dich nicht beschwerst, ich habe Angst.“ Diese Situation vergesse ich mein Leben nicht. Dass ich meine eigene Mutter nicht beschützen konnte. Da geht es für mich um die Ethik der Pflege, oftmals ist da null Verständnis und Empathie bei den Pflegekräften.
Auf welche Rechte kann ich mich bei möglichen Beschwerden berufen, insbesondere im Zusammenhang mit Dekubitus?
Um gegen einen Pflegefehler vorzugehen, müssen Sie den Dekubitus fotografieren und dokumentieren. Da hat man möglicherweise auch ein emotionales Problem als Sohn oder Tochter, wenn ein Dekubitus bereits entstanden ist und das schlechte Gewissen kommt: ,Warum haben wir das nicht schon vorher bemerkt?’ Hinzu kommt: Vielleicht muss man die Mutter oder den Vater auch im Intimbereich fotografieren. Sie brauchen auch einen Zeugen und müssen die Dokumentation dem Arzt zeigen und der Kasse melden. Dann muss die Kasse den Fall beurteilen, bewerten und ggf. Strafanzeige gegen das Heim stellen.
Ihr Rechtsanspruch
„Patientinnen und Patienten haben Anspruch auf eine Behandlung nach dem anerkannten medizinischen Standard. Vermutet ein Patient einen Behandlungsfehler, kann er sich an seine gesetzliche Krankenkasse wenden, die durch das Patientenrechtegesetz (§ 66 SGB V) verpflichtet ist, ihn zu unterstützen.“ https://www.mds-ev.de/themen-des-mds/patientensicherheit/behandlungsfehlergutachten-der-medizinischen-dienste.html
Das gleiche gilt auch für Pflegefehler in Heimen: „Wenn Sie als Pflegebedürftiger einen Schaden erlitten haben, für den das Pflegeheim oder der Pflegedienst verantwortlich ist, können Sie Schadenersatz verlangen. Diesen Anspruch kann auch die vertretungsberechtigte Tochter im Namen ihrer Mutter geltend machen.
Das Wichtigste in Kürze:
https://www.pflegevertraege.de/gut-zu-wissen/pflegefehler-was-tun-13428
Was ist zu tun, wenn nach Hinweisen auf Missstände durch Angehörige seitens des Pflegeheims Drohungen ausgesprochen werden, z. B. „Dann suchen Sie sich doch ein anderes Pflegeheim“?
Die meisten Betroffenen – Pflegebedürftige wie Angehörige – sind einer solchen Lage ohnmächtig und wehrlos ausgeliefert, weil sie meist keine Chance haben, auf die Schnelle ein anderes Heim zu finden. Man weiß ja um die Bettenknappheit in den Heimen. Die vorbildlichen Einrichtungen haben meist auch Wartelisten, da werden Kapazitäten über Mund-zu-Mund-Propaganda mitgeteilt. Angehörigen, die gerade ein Pflegeheim für Mutter oder Vater suchen, rate ich im Vorfeld der Platzsuche, nie zu sagen, dass sie die Pflege zu Hause nicht mehr schaffen, oder froh seien, einen Platz gefunden zu haben, denn dann sind sie erpressbar.
Ja, natürlich hätten Sie Rechte, Sie haben ja einen Heimvertrag, das Heim hat einen Versorgungsvertrag, Sie bezahlen viel Geld, Sie bezahlen das Gehalt der Pflegekräfte. In allen Heimprospekten und Internetauftritten wird den Angehörigen Pflege der Superlative versprochen. Das, was versprochen wird, hat in vielen Fällen mit der Realität aber nichts zu tun.
Würden wir jetzt das Metier wechseln und Sie würden diese Missstände in Ihrem Urlaubsort erleben, dann würde jeder Reiseveranstalter Regressforderungen bekommen und wegen Prospektbetrug belangt werden. In der Pflege und insbesondere beim Dekubitus verschließen wir die Augen.
Wie würden Sie – ein Mann mit viel Fachwissen – einen pflegebedürftigen Angehörigen heute versorgen oder versorgen lassen?
Wir haben unsere eigenen Eltern mit sehr viel Glück mit einer intakten Familie (keine Erbschaftsdiskussionen) und mit Hilfe von Frauen aus Rumänien (legal) zu Hause versorgt. Dafür bin ich demütig dankbar.
Auch drei Tanten und einen Onkel konnten wir mit sehr viel Glück zu Hause so versorgen. Das ist jedoch nicht die Regel, daher bin ich vorsichtig mit der Antwort. Jede Familie ist anders, mitunter werden auch alte Rechnungen beglichen. Ich habe zu Hause ein Schild stehen, darauf steht: ,Sei lieb zu deinen Kindern, sie suchen dir später das Pflegeheim’. Also, die Versorgungssituation bei Pflegebedürftigkeit muss jede Familie für sich klären.
„Ich habe vor einem Jahr selber in meiner Familie unsere 90-jährige demente Mutter palliativ versorgt. Wir waren rund um die Uhr präsent, mindestens zwei Menschen, die sie fachlich versorgt und begleitet haben. Doch mussten auch wir bei dieser entstehen kann und wie zeitaufwändig die Lagerungssituation ist. In einem Pflegeheim hätte sie mit Sicherheit einen Dekubitus bekommen. Denn in vielen Heimen liegen Menschen stundenlang in ihren Ausscheidungen. In diesem Klima ist der Dekubitus vorprogrammiert.“ (Claus Fussek)
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